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Frankreich erhöht Mindestlohn und Reichensteuer

Associated Press

Obdachloser vor einem Kaufhaus in Paris: Der neue französische Präsident François Hollande erhöht den Mindestlohn, damit die Franzosen mehr Geld im Portemonnaie haben.

PARIS--Frankreichs Arbeiter bekommen ab nächster Woche einen höheren Mindestlohn, während Konzerne und Reiche mehr Steuern zahlen sollen. Mit dem Schritt holt der neue französische Präsident François Hollande zu einem Doppelschlag aus: Er will gleichzeitig die lahme französische Wirtschaft über die Konsumseite ankurbeln und über Steuererhöhungen die Schulden senken.

Erstmals erhöht Frankreich den Mindestlohn über den Inflationsausgleich hinaus. Ab 1. Juli soll er zwei Prozent höher ausfallen; die Preise werden in diesem Jahr aber wohl nur um 1,4 Prozent steigen. Damit haben Geringverdiener 21,50 Euro im Monat mehr im Portemonnaie, sagt die Regierung. „Wir haben dieses Versprechen gemacht, und wir haben es gehalten", sagte der französische Arbeitsminister Michel Sapin am Dienstag.

Zudem wird die Regierung das Steuersystem überarbeiten, um ihr Haushaltsdefizit wie versprochen von 4,5 Prozent der Wirtschaftsleistung in diesem Jahr auf drei Prozent im nächsten Jahr zu senken. Zu den Neuerungen zählen eine neue Dividendensteuer sowie höhere Vermögens- und Erbschaftssteuern. Daneben will die Regierung für Spitzenverdiener mit einem Jahresgehalt von mehr als einer Million Euro einen neuen Spitzensteuersatz von 75 Prozent einführen.

Schwaches Wachstum, hohe Steuerausfälle

Frankreich braucht mehr Geld. In diesem Jahr muss die Regierung nach eigenen Angaben zusätzliche acht Milliarden Euro einnehmen, um Steuerausfälle im Zuge des überraschend schwachen Wirtschaftswachstums zu kompensieren und um ihr angekündigtes Defizitziel zu erreichen.

Dass Präsident Hollande jetzt den Mindestlohn – in Frankreich Smic genannt – und die Steuern erhöht, deckt sich mit seinen Wahlversprechen, aber nicht mit der Wirtschaftspolitik in anderen Staaten der Eurozone. Diese versuchen vielmehr, ihre Lohnkosten zu deckeln, um wettbewerbsfähiger zu werden. Und sie versuchen, Haushaltslöcher über Ausgabenkürzungen zu stopfen, anstatt über Steuererhöhungen.

Seit Hollandes Amtsantritt Mitte Mai hat sich die europäische Schuldenkrise weiter verschärft und auch in Frankreich schrillen die Alarmglocken. Das Wirtschaftswachstum stottert, und nach Angaben des nationalen Statistikamts Insee wird die Arbeitslosigkeit weiter zunehmen. Frankreichs Arbeitslosenquote liegt momentan bei zehn Prozent. In der vergangenen Woche erst meldete die größte Fluggesellschaft im Land, Air France, dass sie bis Ende nächsten Jahres mehr als 5.000 Mitarbeiter entlassen muss – rund jeden zehnten Beschäftigten.

Ausgabenkürzungen nicht ausgeschlossen

Mit seinem Vorstoß könnte Hollande abermals bei den Deutschen anecken, die unterschiedliche Ansichten zur Lösung der europäischen Schuldenkrise haben. Am Donnerstag und Freitag treffen sich Hollande und Bundeskanzlerin Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel.

Auch Ökonomen sehen die geplanten Maßnahmen kritisch. „Eine Steuererhöhung bremst die Wirtschaft und könnte Frankreich aus der Stagnation in eine Rezession drängen", sagte Nicolas Bouzou, Volkswirt bei der französischen Finanzberatung Asterès.

Die französische Regierung schließt weitere Ausgabenkürzungen aber nicht generell aus. Nach einem Sondergipfel des Kabinetts am Montag sagte der französische Premierminister Jean-Marc Ayrault, dass die Regierung die Staatsausgaben auf dem derzeitigen nominalen Niveau halten wolle. Das käme wegen der Inflationsentwicklung einer Kürzung gleich.

Nach Auskunft von Regierungsvertretern rechnet Hollande damit, dass er im nächsten Jahr unbeliebte Ausgabenkürzungen leichter vornehmen kann, wenn er der Mehrheit der Bürger in diesem Jahr entgegenkommt. Dennoch könnte der Präsident schon den Rückhalt zweier wichtiger Gruppen verloren haben: der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände.

Die Gewerkschaften haben die Regierungen bereits für die Erhöhung des Mindestlohns aufs Korn genommen. Ihnen geht der Anstieg nicht weit genug. Sie sagen, die Kaufkraft der Geringverdiener würde kaum steigen. „Der tatsächliche Anschub für den Mindestlohn liegt nur bei 0,6 Prozent, soviel wie ein Baguette mehr pro Woche", sagte ein mächtiger Gewerkschafter aus dem linken Flügel. Arbeitsminister Sapin entgegnete, ein begrenzter Anstieg des Mindestlohns sei gewollt, um „zu vermeiden, dass unsere Wirtschaft destabilisiert wird".

Hollande mache alles rückgängig, sagen Unternehmer

Auch viele Unternehmer schäumen vor Wut. Bei Ervor, einer kleinen französischen Firma in den Außenbezirken von Paris, die mit 45 Beschäftigten Drucklufterzeuger für Dieselmotoren herstellt, ärgert sich Geschäftsführer Laurent Vronski über die Pläne der Regierung. Gerade erst hatte die konservative Vorgängerregierung Einkommenssteuerkürzungen in die Wege geleitet, die sie über höhere Umsatzsteuern finanzieren wollte. Jetzt mache Hollande all das wieder rückgängig, sagt Vronski.

So würden jetzt die Lohnkosten in Frankreich steigen, was auf die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe drückt. Vronskis Firma selbst verkauft 90 Prozent ihrer Produkte im Ausland. Eigentlich hatte der Geschäftsführer vor, in diesem Jahr die Fertigung auszuweiten. Die Pläne liegen jetzt auf Eis – solange, bis er sich einen besseren Überblick über die neuen Steuerpläne der Regierung verschafft hat, sagt Vronski.

Hollande hatte angekündigt, dass er die Umsatzsteuer nicht erhöhen werde, um die Konsumausgaben nicht zu torpedieren, die in Frankreich 55 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen.

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