NachtzugBitte aussteigen

Der Nachtzug ist ein Kulturgut – ideal, wenn Piloten streiken oder man irgendwo in Europa aufwachen will. Bevor die Bahn Strecken streicht, sind wir nochmal eingestiegen. von Christian Horn

Nachtzug

Züge, nachts  |  © fabsn / photocase.com

Früher Abend, Berliner Hauptbahnhof, Tiefebene. Flugstreikopfer, Studenten, Kreative, Radsportler, Großfamilien, Geschäftsleute und andere Reisende tummeln sich an Gleis 6 und warten auf den Nachtzug nach Paris. Viele von ihnen nehmen ihn nicht zum ersten Mal.

Aber vielleicht nehmen ihn viele zum letzten Mal.

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Die Züge sind frühzeitig und langfristig ausgebucht, laut dem Betriebsrat der DB European Rail Service stieg die Zahl der Nachtzugreisenden in den vergangenen zehn Jahren an, um 60.000 auf 1,5 Millionen. Doch die Bahn stellt im Dezember zahlreiche Nachtzugstrecken ein, etwa die zwischen Berlin und Paris, Amsterdam und Kopenhagen. Sie fährt Verluste ein, der Fuhrpark ist veraltet, Investitionen wären notwendig

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Als der Zug hält, kommt Bewegung in die Menschenmenge. Da ist etwa Steve, ein US-Amerikaner, der nach eigener Aussage keinen festen Wohnsitz hat. Seine Eltern leben in Paris, er möchte nach kurzem Aufenthalt in der Seine-Metropole weiter nach Los Angeles, wo er den Haushalt seines verstorbenen Großvaters auflösen muss. Doch eigentlich befindet er sich in Gedanken schon im Iran, wo er im Anschluss einige Wochen bleiben und seinen Projekten als Künstler nachgehen möchte. Neben ihm stehen zwei Fahrräder, drei große Reisetaschen, ein Rucksack und einige Kisten. Ein Kumpel von ihm sitzt einige Meter weiter auf der Bank.

An der Tür zum Fahrradabteil konkurriert Steve mit Großfamilien und ihren Kinderwagen, mit Fahrrädern und Anhängern. Doch alles geht harmonisch vonstatten. Man hilft sich gegenseitig, reicht sich Dinge und Kinder zu und hievt sie gemeinsam in den Waggon.

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Sanitäreinheit im Schlafwagen  |  © Christian Horn

Der Gang vom Fahrradabteil bis zum Schlafwagen führt durch die Waggons mit den Sechser-Sitzabteilen, dann durch die Liegewagen, in denen die Pritschen doppelt oder dreifach übereinander gebaut sind. Während der Zug durch den Tunnel gen Berliner Süden rollt, sortieren sich die Reisenden. Koffer blockieren die Gänge. Zwei Schritte nach vorn, einer zurück. Stimmen US-amerikanischer Touristen, kanadische Akzente. Französischsprachige Familien aus dem nahen Osten in farbenkräftigen Gewändern. Als der Zug bereits durch Brandenburgs Kiefernwälder rollt, ist der Schlafwagen erreicht. Er bietet mit Zweier- und Einzelabteilen den höchsten Reisekomfort. Die Betten hier sind breiter als die Liegen weiter hinten im Zug. Der Schaffner bittet um die Reservierungen. "Sie wünschen Kaffee oder Tee zum Frühstück? Wann möchten Sie geweckt werden? Wir empfehlen aus Sicherheitsgründen, die Türen zu verriegeln."

Während Studenten und andere Geringverdiener häufig in den Sitz- und Liegewagen reisen, logiert im Schlafwagen das solventere Publikum. Touristen, Geschäftsreisende oder Menschen, denen Fluggesellschaften aufgrund eines Flugausfalls die Bahn als Ersatzreiseweg angeboten haben. Doch wirklich kostenintensiv ist auch der Schlafwagen nicht; viele Reisende sparen sich durch ihn eine Hotelübernachtung. Und im Sitzabteil ist die Fahrt richtig billig. Der Europa-Spezial-Tarif der Deutschen Bahn ist für die einfache Fahrt bei rechtzeitiger Buchung für 39 Euro zu haben.

Die kleinen Unterschiede

Nachtzugreisen sind Kulturreisen. Sie verknüpfen kulturelle Zentren und Metropolen Europas. Sie bringen ein buntes Publikum zusammen. Und sie sind eine Kulturtechnik- Das ist wörtlich zu verstehen. Alleine der Schließmechanismus der Abteiltüren ist eine kleine Wissenschaft für sich. Klinke, zwei Sicherheitsschlösser und eine Schließkarte. Wer nachts raus muss und die Karte vergisst, muss seine Mitreisenden aus dem Schlaf klopfen.

Auch die Organisation im Abteil verdient eine nähere Betrachtung. In Liege- und Schlafwagen liegt die Bettwäsche sauber gefaltet bereit. Im Liegewagen sind Waschbecken im Gangbereich zu finden. Schlafwagen hingegen verfügen über kleine Sanitäreinheiten innerhalb der Kabinen. Hier sind Handtücher ordentlich über den kleinen Waschbecken drapiert, Warmwasser fließt auf Knopfdruck. In kleinen versiegelten Bechern steht Mundspülwasser bereit. Wer eine Dusche benötigt, findet diese auf dem Gang.

Am Morgen springt ein Wecker an, den der Zugbegleiter für jedes Bett programmiert. Die Gestaltung des Frühstückrituals variiert nach der Bauart der Schlafwagen. Auf der Strecke Berlin-Paris stellt der Zugbetreuer in jedem Abteil Tische auf, bevor er das Frühstück serviert. Auch auf der Strecke Berlin-Zürich wird das Frühstück gereicht, wobei der Komfort in den Schlafwagen eingeschränkt ist. Für Tische reicht der Platz hier nicht, und die Abteildecken sind niedriger. Der Grund: Die Schlafwagen sind hier nach dem Doppeldeckerprinzip aufgebaut, es liegen also zwei Kabinen übereinander.

Leserkommentare
  1. "Nachtzug ist ein Kulturgut"

    Das ist ein Verkehrsmittel. Ein Nachttopf ist ein Kulturgut. Und ein Kulturbeutel. Wenigstens für die Redakteure des Feuilletons.

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  2. >>Doch wirklich kostenintensiv ist auch der Schlafwagen nicht; viele Reisende sparen sich durch ihn eine Hotelübernachtung.<<

    Also, da habe ich andere Erfahrungen. Auf meinen Touren in der letzten Dekade habe ich zunehmend auf den Schlafwagen verzichtet und bin lieber morgens bzw. abends mit Tageszügen gefahren und habe dann zwischendurch in einem Hotel übernachtet. Das war wesentlich billiger und vor allem bequemer. Der Zeitverlust durch Verzicht auf den Nachtzug war auch relativ gering, da Nachtzüge viel länger von A nach B brauchen, als Tageszüge.

    Ich glaube eher, dass die Bahn schlicht geschlafen und ihr Angebot nicht rechtzeitig modernisiert und an eine veränderte Nachfrage angepasst hat. Will sagen, die Bahn setzt bei Schlafwagen immer noch hauptsächlich auf Luxuskunden wie anno dunnemals, statt dieses "Produkt" intelligenter auf tatsächliche Bedarfe auszurichten und ggf. quer zu subventionieren. Aber wenn sich jedes "Produkt" allein "rechnen" soll und man in den Vorständen nicht daran interessiert ist, ein funktionierendes und getaktetes Gesamtangebot zu entwickeln und zu pflegen, muss sich niemand wundern, dass wieder ein Stück "Kulturgut" den schnöden Mammonbach runter geht.

    Ich bin diesem Kulturgut im Übrigen sehr zugetan, weil ich einen Teil meines (studentischen) "Berufs"lebens darin laken- und deckenfaltend zugebracht habe.
    Das besondere Flair dieser nächtlichen Fortbewegungsart bieten heute wohl nur noch Fährschiffe. Die Bahn hat jedenfalls kein Flair mehr.

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  3. Da wird man in Zukunft für dieses Vergnügen also nach China fahren müssen.

  4. Schlafwagen sind nicht nur etwas für das solventere Publikum - sie sind ganz ideal für eine Familie mit einem (bahnbegeisterten) Kind unter vier Jahren. Man hat ein Abteil für sich und kommt gemütlich von Paris nach Hamburg.

    Wenn man die Fahrkarte in Paris kauft, heißt das übrigens nicht "erste Klasse", sondern einfach "Familien-Abteil". Genau!

    In Europa fahren wir Bahn, wann immer es möglich ist. Daß für solch (im europäischen Maßstab) kurze Strecken wie nach Paris es jetzt das Flugzeug sein muß, macht mich traurig. 10+ Stunden in Bahnen tagsüber oder unfreundlichen Bussen sind mit kleinen Kindern keine Alternative.

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    • Zzzzeit
    • 21. Oktober 2014 16:54 Uhr

    Fliegen ist kostengünstiger als die Bahn und unterm Strich hat man bei Europäischen Reisen (Paris, Rom, Barcelona, Athen, London..) einen Urlaubstag mehr im Jahr, den man nicht für's Reisen selbst verschwendet.
    Außerdem ist Fliegen lustiger weise auch Kostengünstiger. Vermutlich, weil es nicht verstaatlicht ist und die Konkurenz das Geschäft belebt.

  5. Problem sind die hohen Preise für die Nutzung der Schieneninfrastruktur.
    Bei niedrigeren Preisen wäre Nachtzugverkehr vermutlich wirtschaftlich machbar, ergab eine Studie von Vieregg-Rösler für Windland.

    Die variablen Kosten soll ein Zug natürlich decken, ebenso im Fall knapper Kapazitäten einen angemessenen Beitrag leisten. Die Tageszüge können darüber hinaus einen substantiellen Deckungsbeitrag leisten, mit dem auch Fixkosten gedeckt werden. Das gilt besonders auf den stark befahrenen Hauptstrecken. Die Nachtzüge fahren weite Stecken und stehen vermehrt in Konkurrenz zum Flugverkehr und können nicht dasselbe je km bezahlen.

    Für neue Nachtzüge nach Schottland werden sogar Subventionen bezahlt. Das muss vielleicht nicht sein. Aber es könnten ja Trassen zur Nutzung mit Nachtzügen vorgehalten und ausgeschrieben werden. Dann würden sich eben die Firmen bewerben, die an einen wirtschaftlichen Betrieb glauben.

    Vielleicht kommt dann doch ein kleiner Gewinn (Deckungsbeitrag) auch für die Schieneninfrastruktur heraus. Jedenfalls besser als heute, wo auf vielen Strecken keine Nachtzüge fahren und damit auch kein Erlös entsteht. (Das gilt auch für Fernverkehr auf Strecken weitgehend ohne Fernverkehrszüge, wie Berlin-Rostock)

    Die Hochgeschwindigkeitsstrecken sind in ein Nachtzugnetz einzubeziehen, auch in Frankreich. Dort rollen die Züge ruhig und stören weniger Anwohner.

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  6. * Fahrgeld-Einnahmen von den Nacht-Fahrgästen
    * Gut fürs Image (falls es ein gutes Angebot ist
    * vollständiges Angebot, Fahrgäste wechseln nicht (gezwungenermaßen) auf andere Verkehrsmittel und nutzen diese dann immer öfter.
    * Kinder mögen Nachtzüge und werden so zu Bahn-Liebhabern
    * Häufig wird nur eine Richtung mit Nachtzug zurückgelegt, die Gegenrichtung mit Tagzügen. Künftig: Beide Richtungen mit dem Flugzeug oder auf der Straße.
    * Von den Zügen erwirtschaftete Trassenpreis-Erlöse (auch auf der Rückfahrt am Tage).

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  7. nach und nach einiger Synergieeffekte mehr, wie schon von @meerwind beschrieben. Nach wie vor verschiebt die Bahn Lokpersonal vom Osten nach den Westen, mit befristeter Uebernahme der Kosten für Uebernachtung, statt einfach die Arbeit nach dem Osten zu verschieben. Nicht selten auch wurden in der Vergangenheit Gebäude und Anlagen modernisiert, nur um sie anschliessend zu schliessen. Es gäbe also wahrlich woanders noch grösseres Einsparpotenzial. Aber vielleicht gibt`s ja bald Nachtbusse...

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  8. Nicht ohne Grund stecken Bahnchefs und Verkehrsminister meistens mit der Autoindustrie unter einer Decke und arbeiten daran, die Bahn Schritt für Schritt zu zerstören: Streckenstilllegungen, Fahrpreiserhöhungen, Prestigeprojekte ohne Nutzen, zu kurze und vollgestopfte Regionalzüge, Schlaf- und Speisewagen weg, Autoreisezüge weg, Nachtzüge weg - bald auch endlich alle Passagiere auf das Auto umgestiegen?
    Ein Hoch auf die Privatisierung! Was daraus folgt, hat man in England sehen können - wer es trotzdem durchzusetzen versucht, muss ein Interesse an der Vernichtung des Systems Eisenbahn haben.
    Wenn die Bahn nur einen Bruchteil der Gelder bekäme, mit dem das System Autoverkehr subventioniert und gefördert wird, könnten wir alle im Minutentakt in gerne benutzten und trotzdem nicht überfüllten Zügen bis in die letzten Ecken dieses Landes fahren, dabei in Liegesitzen ausruhen, in Speisewagen echtes Essen essen, frei von Telekomik über WLAN surfen und telephonieren, Räder und Hänger auch im ICE mitnehmen, ohne Zuschläge auch mal schneller als 160 fahren, und vieler komfortabler Punkte mehr. Ein tolles Buch zu diesem Thema, obwohl schon etwas älter leider immer noch brandaktuell: "Eisenbahn und Autowahn" von Winfried Wolf - wenn doch nur ein paar von unseren tollen Politikern mal das eine oder andere schlaue Buch lesen würden...

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    Welch schöne Form des Reisens das wäre, was Sie da beschreiben. Da würde jede Dienstreise Spaß machen und durch die Möglichkeit, während des Reisens zu arbeiten, Synergieeffekte für Unternehmen schaffen, die die ausfallenden Subventionen für Dienstwagen der S-Klasse vollkommen in den Schatten stellen würden.

    Stellen wir uns den Schaden für die Hotelbranche vor, wenn Fahrgäste ausgeruht am Erholungsort ankommen und ihn am Abend müde wieder verlassen. Zwei Nächte weniger!

    Die Verkehrsminister der Bundesrepublik verstehen sich in der Regel als verlängerter Arm der Automobilindustrie. Ich halte es nach wie vor für den zweitgrößten Fehler der Grünen (nach dem Umschwenken von der Friedensbewegung zur Kriegstreiberei), während der Rot-Grünen Regierung auf das Bundesverkehrsministerium verzichtet zu haben. Von Herrn Dobrindt habe ich zu den Themen Bahn und Fahrrad nichts vernommen.

    Im europäischen Vergleich ist Deutschland verkehrspolitisches Entwicklungsland, zumindest aus der Sicht des Verweigerers der Automobilnutzung (wo immer es geht), wie ich es bin. Während in London, Paris & Co. Fahrradbahnen gebaut werden, besteht Berlins SPD auf einer Autobahnerweiterung. Deutschlands Züge sind fast immer unpünktlich, fällt im Ausland ein Zug aus, ist es meist einer der Deutschen Bahn. Peinlich ist das! Aber das merkt keiner, denn wir Deutschen sind Autoliebhaber.

    Bevor Ihre Vision Wirklichkeit wird, muss uns zunächst das Öl ausgehen. Vielleicht geht das schneller, als wir denken.

    • hmnuja
    • 22. Oktober 2014 8:40 Uhr

    Steffen Kopetzky "Grand Tour oder die Nacht der Großen Complication"

    http://www.zeit.de/2002/1... "Todmüde und glücklich-erschöpft liege ich in meinem Abteil und denke an die Menschen, die man trotz all der Reisen niemals kennen lernen, und an die Wohnungen, die man niemals betreten wird, und während der Zug die ersten Vorstädte von Brüssel hinter sich lässt und die Fackelzüge der Straßenlaternen, die Lichter von Industrieanlagen und die Streckensignale weit entfernter Gleise anfangen, sich auf das wunderbarste zu vermischen, schlafe ich langsam ein, noch gegen meinen Willen, denn es ist fast zu schön, um zu schlafen. Derart aus einem fahrenden Schlafwagenabteil blickend, verwandelt sich noch jede Vorstadttristesse in etwas Schönes und Kostbares, in die sinnliche Gewissheit, dass das Leben ein Geschenk ist und das Reisen manchmal der Weg, dies zu erfahren und für einen langen, glühend-nächtlichen Augenblick ganz einfach und unmittelbar begreifen zu können ..."

    • cbhb
    • 22. Oktober 2014 21:56 Uhr

    Das kann man höchstens im Zug.

    Und vermutlich weil das so ist wird Ihr Wunsch leider nie in Erfüllung gehen... ;-)

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  • Quelle ZEIT ONLINE
  • Schlagworte Deutsche Bahn | Europa | Paris | Berlin | Kopenhagen | Bahnreise
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